Wie gewohnt, für alle die, die sich lieber einmal im Monat die ganze Geschichte durchlesen, ohne mehrere Seiten anzuklicken, hier jetzt die komplette Geschichte.
Räuber
Die zwei Reisenden wollten gerade die Kutsche besteigen, als vielfache Schritte sich dem Marktplatz näherten. Es war frühmorgens, der blaue Mond war bereits untergegangen. Da die Sonne noch nicht aufgegangen war, lag der Platz im dunkelroten Licht des zweiten Mondes, wodurch die Uniformen der Stadtwachen, die sich der Kutsche näherten, einen düsteren Ton annahmen. Sie begleiteten eine Frau, deren Alter in dem unsicheren Licht nur schwer einzuschätzen war.
"Was soll das?" bescherte der Fahrer sich. "Es wurden nur zwei Fahrscheine verkauft…"
Die Wächter sahen ihn nur an, und der Fahrer wurde still. Dann sprach der Leutnant, der den Wachtrupp anführte. "Wir haben hier … jemand, die der Stadt verwiesen wurde. Wie du sicher weißt, wird die Fahrt vom Reich bezahlt. Diese Frau" – der Abscheu, den er in das Wort legte, war besser zu hören als das Wort selbst – "wurde in Miran zur unerwünschten Person erklärt, weil sie Adlige verspottete."
"Und warum wird sie auf eine Kutsche gesetzt, und nicht einfach aus dem Tor geworfen?"
"Ihre Lieder wurden als ansteckend und zu gefährlich für das Volk von Miran eingestuft. Es wird erwartet, dass ihre Lieder in der Ferne weniger Schaden anrichten können, auch, weil das verspottete Individuum die meiste Zeit in der Stadt verbleibt."
"Ein einzelner Adliger? Und das ist so schlimm, dass sie weit weggeschickt werden muss?" Man hörte den Hohn sehr deutlich.
"Bezweifelst du die Weisheit von Baron Viridian Gilbur?"
Der Name des Chefs des imperialen Geheimdienstes erstickte allen weiteren Widerspruch im Keim. Der Kutscher drehte sich ab und kümmerte sich nicht weiter darum, was mit der Exilantin geschah. Die Frau wurde brutal in die Kutsche gestopft, anschließend stiegen auch die beiden anderen Fahrgäste ein. Schließlich stiegen zwei Wachen auf die Trittbretter auf der Rückseite der Kutsche und sie fuhr los.
Die beiden zahlenden Reisenden fühlten sich ein wenig unbehaglich in Gegenwart der Fremden, auch weil sie sie, vor dem Morgengrauen und mit vorgezogenen Vorhängen, nicht richtig sehen konnten. Erst als die Sonne eine Stunde später aufgegangen war, erhielten sie einen besseren Eindruck.
Die Abgeschobene war eine Frau unbestimmbaren Alters. Sie trug einen kurzen, braunen Rock und eine ärmellose Bluse mit Blumenmuster. Sie hatte an Stelle von Haar kastanienbraune Stoppeln, und sie blickte aus schwarzen Augen in die Welt. Ihr Gepäck, das auf dem Kutschendach lag, schien aus einem Leinensack zu bestehen mit ein paar Dingen drin, aber viel konnte es nicht sein. Sie sah sicherlich nicht reich aus: Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein kupferner Armring, verbeult, verdreht und verkratzt, für den man nur mit viel Glück noch ein oder zwei Silberstücke auf dem Markt bekommen hätte.
Sie schien zunächst eine Zeitlang geschlafen zu haben, aber jetzt, da Licht in die Kutsche flutete, erwachte sie und blickte sich um. Sie lächelte die beiden anderen Passagiere an, rückte in eine etwas komfortablere Haltung und blickte aus dem Fenster.
"Wohin soll die Reise denn gehen?" fragte sie dann.
"Mesafort", antworterte der Mann.
Sie blickte ihn an, ein Anflug von Kummer und Verlegenheit flog über ihr Gesicht. "Ich vergesse meine Manieren. Mein Name ist Millefleurs."
"Millefleurs?" kam das Echo von dem Mann. "Die Bardin?"
"Ja, Sie haben von mir gehört?"
"Hin und wieder. Ihre Fehde mit Baron Gilbur war eine Zeitlang das Stadtgespräch. Ach ja, ich heiße Pampryl, Harkon Pampryl, und dies ist meine Tochter Yana. Wir sind auf einer Geschäftsreise nach Mesafort, anscheinend gibt es dort Probleme mit einer Lieferung."
"Angenehm", sagte Yana, auch wenn man gut hörte, dass es ihr alles andere als das war.
In Gedanken zuckte Millefleurs mit den Achseln, ließ aber nichts davon sichtbar werden. "Geschäftsreise? Warenlieferung? Sie sind Händler, nehme ich an?"
"Ja, aber nicht in gewöhnlichen Waren. Wir handeln ausschließlich mit magischen Waren."
"Ich verstehe … Mesafort … Ihr Ziel ist also die Akademie?"
"Das stimmt. Wissen Sie, sie wollen…"
"Vati!" unterbrach ihn seine Tochter.
"Ja, mein Liebling, was gibt's?"
"Ich glaube nicht, dass Fräulein Flur sich für langweilige Handelsgeschichten interessiert."
"Oh, ja. Nun, vielleicht kann sie uns dann, stattdessen, mit ein paar Geschichten aus ihrem Leben unterhalten?"
Und obwohl Yana sie offensichtlich immer noch nicht mochte, entwickelte sich langsam eine lebhafte Konversation und die Stunden gingen vorbei wie die Meilen unter den Rädern.
* * * * *
Es war am frühen Nachmittag, kurz nach der Mittagspause, als die Kutsche plötzlich anhielt. Die drei blickten verwirrt auf, denn es war kein Halt angekündigt.
"Was ist los?" wollte Pampryl wissen.
"Mal sehen" antwortete Millefleurs und blickte durch einen Spalt im Vorhang. "Oh oh!"
"Wie? Ist es schlimm?"
"Nun, ich sehe etwa die doppelte Götterzahl in schmutzigen dunklen Rüstungen, die die Kutsche anscheinend gestoppt haben. Ich vermute es sind Räuber, und nur zwei Wächter und ein Kutscher reichen wohl kaum um sechzehn Räuber zu vertreiben."
"Was meinen Sie?"
"Ich meine, selbst wenn Sie ein Spitzenkämpfer wären, wären das vier gegen… mindestens fünfzehn plus sicherlich noch ein paar Bogenschützen im Gestrüpp. Das ist eine sichere Niederlage. Wir fügen uns besser."
Schnell wich sie vom Fenster zurück, und drei Sekunden später wurde die Türe aufgerissen.
"Alle Mann raus!" bellte eine raue Stimme.
Im plötzlichen Sonnenlicht blinzelnd, stiegen die drei aus. Hinter ihnen überprüfte ein Brigant schnell die Kutsche und kam wieder heraus und gab ein Zeichen, dass sie wirklich leer war. Die Wächter und der Kutscher waren bereits entwaffnet und jemand warf das Gepäck vom Kutschendach. Es wurde schnell durchsucht, und ein paar Münzen und etwas Schmuck aus Yana's Tasche verschwanden in den Taschen der Räuber.
Als ihre Tasche hinunter geworfen wurde, keuchte Millefleurs leise "Nein!" Der Anführer der Briganten hatte es aber anscheinend gehört, und er grinste sie bösartig an, als er mit großer Sorgfalt auf ihre Laute trat. Das Splittern des Holzes war klar zu hören. Millefleurs schluckte ein paar Mal, und dann flossen Tränen ihre Wangen hinab, während die Räuber rau lachten.
Unerwarteterweise wurden nur die drei Reisenden gebunden und mitgenommen, während der Kutscher und die Wächter zurückgelassen wurden. Nach ein paar hundert Metern durchs Gestrüpp wurden die drei auf Pferde geschnallt und die Räuber rasten mit ihnen davon.
Es wurde bereits Nacht, als die Räuber eine Höhle in den Bergen erreichten. Millefleurs blickte sich um. Es sah aus, als würden etwa fünfundzwanzig Banditen hier hausen, wenn man von den Bettrollen ausging, die in der Höhle lagen, durch die sie gestoßen wurden. Schließlich erreichten sie eine Höhle weitab vom Ausgang, wo ihre Hände und Füße sicher gebunden wurden und ihre Hälse in Ringe geschlagen, die mit Ketten an den Wänden festgemacht waren. Die Höhle war lang und eng, und die Ketten waren so kurz, dass sie sich nicht gegenseitig berühren konnten, ganz zu schweigen von Versuchen, sich gegenseitig zu befreien. Dann fiel erst einmal Stille herab.
"Da wären wir also", meinte Pampryl mit niedergeschlagener Stimme. "Hat jemand eine Idee, weshalb sie uns mitgenommen haben?"
"Das frage ich mich auch", musste Millefleurs zugeben. "Es kann nicht für Lösegeld sein, denn dann hätten sie mich nicht mitgenommen – nicht, nachdem sie mein Gepäck gesehen hatten. Sie müssen wissen, dass ich nichts besitze, um ein Lösegeld zu bezahlen, und dass es wahrscheinlich auch niemanden gibt, der er täte."
"Keine Verwandten?"
Millefleurs lächelte bitter. "Nun, ich habe einen Onkel, der reich genug wäre, um Lösegeld zu zahlen…"
"Na also!"
"Aber … würde er das wirklich tun, direkt nachdem er mich aus Miran deportieren ließ?"
Pampryl blickte sie entsetzt an. "Sie meinen… Baron Gilbur?"
"Ja, genau der alte Nörgler. Der würde nur grinsen und sagen 'Gut dass ich die los bin', wenn er hiervon hört."
Pampryl und seine Tochter blickten sie unsicher an. "Aber er ist doch Ihr Onkel … Hmm, ich habe ein paar Spottlieder über ihn gehört, die Sie geschrieben haben sollen. Es scheint wirklich, dass zwischen euch beiden wenig Liebe herrscht."
"Sagen wir lieber: Keine. Er wollte mich in eine Magierkarriere zwängen, aber den Göttern sei gedankt, dass ich dafür so geeignet bin wie ein Ziegelstein. Das hat ihn tief getroffen, und als ich beschloss, als Bardin durch die Lande zu ziehen, traf ihn beinahe der Schlag. Wenn es jemanden gibt, der sich über Nachrichten von meinem Tod freuen würde, dann der alte Knacker."
Schritte näherten sich. Dann trat ein Mann in ihr Gefängnis, dunkel- und fetthäutig. Seine Rüstung war etwas besser unterhalten als die der anderen Räuber, und sein Benehmen war das eines geborenen Anführers. Er blickte die drei an und drehte sich um.
"Wer ist das?" fragte er, wobei er auf Millefleurs wies.
Ein anderer Bandit blickte in die Höhle und sah, auf wen er zeigte."Ein Passgier. Du sachtes wir solln die Passgiere mitbringen."
"Aber es gab nur zwei Passagiere, du Narr."
Der Bandit schüttelte den Kopf. "Nee, da warn drei. Ick weeß, watte gesacht hattst, aber …. es warn drei."
Der Anführer blickte Millefleurs misstrauisch an. "Wieso warst du in der Kutsche?"
Millefleurs blickte starr zurück. "Ich wurde aus Miran deportiert. Anscheinend mochte jemand nicht, welche Lieder ich sang."
"Und steckte Dich in eine Schnellkutsche? Die müssen es ja richtig eilig gehabt haben, dich los zu werden."
"Oh ja, das hatte er. Sagte, ich würde seinen guten Ruf beschmutzen. Und dann nutzte er seine Macht…"
Der Banditenanführen grinste wie ein Wolf. "Das is' dann dein Pech. Wenn er es nicht so eilig gehabt hätte, wärst du nicht hier."
Dann wandte er sich an Pampryl. "Es ging vor allem um dich. Du weißt, warum."
Pampryl blickte ihn fragend an. "Wenn ihr Geld wollt, wäre es nicht einfacher gewesen, nur meine Tochter Yana zu entführen, und mich loszuschicken, das Lösegeld zu bringen?"
"Geld!" Der Mann lachte schmierig. "Ich interessiere ich nicht für dein blödes Geld. Ich will einen Ort wissen. Und du weißt, welchen Ort und wo das ist. Verstehst Du?"
Offensichtlich verstand Pampryl diese kryptischen Andeutungen, denn er fragte gar nicht erst nach, was der Räuber meinte. Trotzig reckte er sein Kinn hoch."Das ist etwas, was ihr nicht aus mir herausholen werdet."
"Das werden wir sehen." spottete der Anführer.
"Ihr könnt mich foltern, aber ich werde nicht reden."
"Ah, aber wer redet denn davon, dich zu foltern, kleiner Fettsack? Ich nicht."
Pampryl blickte hinüber zu Yana, plötzliches Verstehen in den Augen. Dann schien er sich zusammenzureißen. "Auch wenn ihr Yana foltert, ich werde nicht reden."
Der Banditenführer grinste. "Wir werden sehen. Du kannst es jederzeit stoppen, Du brauchst es nur zu sagen…"
Millefleurs unterbracht das traute Stelldichein. Spottend sagte sie: "Wow, was für ein mutiger Mann steht hier, der Gefangene bedroht, Gefesselte, die sich nicht wehren können. Und wenn dein Gefangener dir erzählt, was du wissen willst: Ist deine Macht über diese Halsabschneider groß genug, dass sie nicht auf die Idee kommen, die Information selbst zu benutzen und dich aus der Rechnung herauszuschneiden?"
Der Anführer wirbelte herum. "Still! Du bist nur eine Gefangene,,und wenn ich will… Hmm… Vielleicht war es ja eine gute Fügung, dass du in der Kutsche gesessen hast…"
Millefleurs blickte ihn verständnislos an. "W… was meinst du?"
Er wandte sich wieder an Pampryl. "Du hast einen Tag Zeit, es dir zu überlegen, bevor wir uns deine Tochter vornehmen. Aber, damit du auch etwas hast, worüber du nachdenken wirst…" Er gab einem seiner Männer ein Handzeichen, der den Ring von Millefleurs' Hals wieder entfernte. "Nun, ihr könnt von hier gut hören. Und hinterher kann sie euch alles erzählen. Nehmt sie mit!"
Sie holten Millefleurs aus der Höhle und brachten sie nach vorne.
In der Höhle fragte Yana besorgt ihren Vater: "Worüber sprach der Mann?"
"Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, mein Kind", antwortete Harkon Pampryl, und wurde durch Geheul und Pfiffe aus der Haupthöhle unterbrochen. "Oh je, klingt als ob sie alle versammelt sind."
Mit wachsender Besorgnis horchten sie den Geräuschen, die aus den vorderen Höhlen zu ihnen drangen, und die Rufe und Jubelschreie. Hin und wieder klang es auch nach gedämpften weiblichen Schreien, aber das musste seine durchgehende Fantasie sein, versuchte er vergeblich sich selbst zu überzeugen.In glühenden Farben sah er vor seinem geistigen Auge, was da vorgehen mochte, und die Tatsache, dass es nur seine Einbildungskraft war, wollte auch nicht helfen. Da war diese leise Stimme, die ihn fragte: "Wenn das jetzt deine Tochter wäre?"
* * * * *
Die Geräusche schienen eine Ewigkeit anzudauern, bevor sie erstarben. Zurückblickend schätzte er, dass sie nicht mehr als sechs Stunden gedauert haben konnten, aber er war ein gebrochener Mann. Nur die Gedanken, was dort vorgegangen sein könnte – und der Gedanke, Yana sei dort – hatte ihn beinahe in ein wimmerndes Wrack verwandelt. Er blickte kaum auf, als Millefleurs zurückgebracht wurde. Sie konnte kaum noch gehen, und hielt ihre Kleidung in einem Bündel vor sich. Es gab allerdings keine Brandwunden oder Folterspuren.
"Was habt ihr ihr angetan?" wollte er von den beiden Räubern wissen, die sie eskortierten.
"Dat soll sie euch sahn", höhnte einer. "Aba glaubs mia, s'is schlimmer als Folta für viele."
Yana schien erst jetzt zu verstehen – sie keuchte kurz auf, und ihr Vater sank in seinen Ketten zusammen.
Auch Millefleurs sank zu Boden, immer noch ihre Kleider haltend, und blickte nicht auf, als der Halsring wieder verschlossen wurde. Der Räuber, der das Vorhängeschloss anbrachte, blickte zu seinem Kollegen. "Un die Hände un Füße?"
Der andere überlegte kurz. "Nee, is mir egal ob se sich widda anziehn kann. Aba sie kann doch nix tun, also lass sie in Ruhe." Er gähnte. "Ich bin müde. Gehn wer zurück und schlafen."
"Jo, gute Idee", stimmte der andere zu.
Als sie gegangen waren, blickte Pampryl zu Millefleurs hinüber. "Nun, Fräulein, ich muss sagen… es tut mir leid… also… wie kann ich sagen…?"
Plötzlich blickte Millefleurs auf. "Ich denke, Sie sagen am besten nichts."
"Aber Sie haben sich im Endeffekt für meine Tochter geopfert! Glauben Sie nicht, dass ich nicht bemerkt hätte, wie Sie seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben!"
"Mein Vater hat Recht", kam es jetzt auch von Yana. "Aber warum haben Sie das getan?"
"Na ja, da gibt es ein Detail, das ich nicht wusste und nicht mehr erfragen konnte. Aber, nur um sicher zu gehen…. Yana, sind Sie noch Jungfrau?"
"Hä?" Yana errötete. "Ja, aber… warum interessiert Sie das?"
"Ich wollte nur sicher gehen. Ist schließlich eine Ressource, die man nicht einfach verschwenden sollte."
"Sie … Sie haben sich geopfert, damit ich nicht… Ich muss Ihnen danken. Aber ich fürchte, das wird nicht viel bringen, denn wenn mein Vater es ihnen morgen nicht erzählt, werden die immer noch…"
"Sie werden nicht." unterbrach Pampryl seine Tochter.
"Vater, Du darfst nicht! Nicht nach allem, was Millefleurs für uns getan hat!"
"Yana, Kind, ich muss. Ich kann doch nicht…"
"Sie brauchen auch nicht." Millefleurs begann, ihr Kleiderbündel zu durchsuchen.
"Was meinen Sie?"
"Nun, zuerst einmal meine ich … das." Millefleurs hielt eine Gabel in die Höhe.
Die beiden anderen blickten sie ungläubig an.
"Sie hatten ihre Runde in der Haupthalle, wo sie auch essen. Ich habe Meine Kleider auf einen Tisch geworfen, und als ich sie wieder einsammelte, als wir gingen, konnte ich die mitnehmen."
"Aber eine Gabel? Konnten Sie nicht ein Messer greifen?"
"Hätte ich auch tun können. Aber wozu? Um jemanden zu erstechen, und dann noch immer in diesem Ring zu stecken? Nein, die Gabel ist mächtiger als das Messer, zumindest in dieser Situation."
Sie ist durchgedreht, dachte Pampryl. Es hat sie doch verrückt gemacht. Jetzt können wir nur auf morgen warten. Vielleicht findet man uns ja rechtzeitig… Und weder er noch seine Tochter sahen, was Millefleurs tat.
* * * * *
Millefleurs war beschäftigt. Zuerst bog sie die Zinken der Gabel um, so dass sie in verschiedene Richtungen zeigten. Dann benutzte sie einen der abgebogenen Zinken, um im Schloss ihres Halsrings herumzutasten. Nach nur fünfzehn Minuten klickte das Schloss leise auf und sie seufzte erleichtert auf. Sie drehte sich komplett herum, um nachzusehen, wie der Ring in der Wand befestigt war.
Der Seufzer und die Bewegungen störten Yana aus ihren trüben Gedanken auf. Sie blickte auf und rief erschrocken aus: "Sie sind ja doch verwundet."
"Psst! Nicht so laut! Wo bin ich verwundet?"
Obwohl sie nicht wusste, wieso, flüsterte Yana: "Da, auf Ihrer linken Seite."
Millefleurs blickte an sich herab, auf einen braunen Streifen, der links an ihrem Bauch vorbei führte. Dann wischte sie ihn mit einem Finger auf und leckte ihn ab. "Minzsauce. Sie hatten gerade gegessen."
Yana schüttelte ein paar Mal ihren Kopf. Sie versuchte noch immer, Sinn in Millefleurs' Kommentar zu bringen, als Millefleurs plötzlich vor ihr stand.
Vor Schreck vergaß sie zu flüstern. "Was? Wie?"
Millefleurs hob den Finger an ihre Lippen, Stille erbittend. Dann flüsterte sie "Sie schlafen wahrscheinlich alle, sie haben genug getrunken, aber es ist möglich, dass der eine oder andere etwas Bier loswerden will. Wir sind besser leise."
Sie begannt, Yanas Schloss mit der Gabel zu bearbeiten. Es war deutlich einfacher, die Eisen von einer anderen Person zu öffnen als die eigenen, und in einer Viertelstunde konnte sie sowohl Pampryl als auch Yana befreien. Dann verlor sie sich in Gedanken, während sie zum Höhleneingang blickte.
"Wollen Sie sich nicht wieder anziehen?" unterbrach Pampryl ihre Gedanken.
"Hmm… das ist eines der Dinge, die ich gerade überlege. Ich denke, es wäre eine gute Idee wenn Yana auch zumindest das Oberteil ausziehen würde."
"Was?" entrüstete Yana sich.
"Ganz einfach. Da sind nur Kerle in den Höhlen, so viel habe ich gesehen. Der Anblick eines nackten weiblichen Körpers könnte uns ein, zwei Sekunden zusätzlich geben, während sie überrascht sind. Aber… sie haben meinen bereits gesehen, da ist die Überraschung geringer. Und wir brauchen jeden Vorteil, den wir ergattern können, und sei er noch so klein."
Yana dachte nach. Schließlich zuckte sie die Schultern und sagte: "Na ja, ohne Sie wäre ich inzwischen noch viel schlimmer dran, also was soll's?" Und sie knöpfte ihre Bluse auf, während ihr Vater ungläubig zusah.
Am Höhleneingang verharrte Millefleurs und lauschte. Regelmäßiges Schnarchen verriet, dass der Bandit, der sie bewachen sollte, überzeugt war, dass sie nicht entkommen konnten. Millefleurs deutete den beiden, sie sollten einen Augenblick warten sollten, und verschwand. Nach zehn Sekunden stoppte das Schnarchen, aber es wurden keine Kampfgeräusche laut bis Millefleurs wieder hereinschaute. Sie hielt eine Armbrust in der Hand und gab einen Säbel an Pampryl. Sie erklärte, dass sie beides der Wache abgenommen hatte.
"Also dann. Gehen wir, aber leise!"
"Und der Wächter?"
"Wird uns nicht stören. Aber versucht lieber nicht, ihn aufzuwecken."
Yana sah erleichtert aus, als sie durch das stille Versteck schlichen. Aber, als wolle Negemji, die Göttin des Zufalls, sie noch einmal testen, stolperte etwa vier Meter vor Yana ein Mann aus einer Seitenhöhle, noch immer schlaftrunken. Offensichtlich wollte er überschüssiges Bier loswerden. Allerdings hatte er nicht erwartet, in den Gängen eine halbnackte Frau zu sehen, und war für einen Moment stocksteif erschrocken. Dann gingen seine Augen zur völlig nackten Millefleurs, die neben Yana stand, und noch weiter auf.
Aber als er seinen Mund öffnete um eine Warnung zu rufen, gab es einen metallisches "Twng" und er fühlte, wie etwas seine linke Brustseite traf. Er blickte hinab, überrascht, und sah einen Armbrustbolzen; aber ob er ihn noch erkannte, bevor er starb, blieb ein Rätsel. Er fiel ohne ein weiteres Geräusch, und Millefleurs durchsuchte ihn schnell. Sie gab ein großes Messer an Yana, die es unsicher hielt. Es gab nichts anderes, das Millefleurs nützlich erschien, und so gingen sie weiter.
Im Freien angekommen, suchte und fand Millefleurs einen Käfig mit drei Tauben. Zu Yanas Entsetzen ergriff Millefleurs die Tauben Stück für Stück und drehte ihnen die Hälse um. Sie gab jedoch keinen Kommentar ab.
Die Pferde der Räuber standen in einer Umzäunung. Millefleurs öffnete das Tor und jagte alle Pferde davon, wobei sie nur drei zurückbehielt. Dann winkte sie Pampryl und Yana, auf zweien davonzureiten, bevor sie sich anzog und dann auf das dritte Pferd stieg.
* * * * *
Es war gegen Mittag am nächsten Tag, und die Pferde waren vom Gewaltmarsch müde, als sie die Hauptverbindungsstraße wiederfanden. Da sie sich in der Gegend nicht auskannten, hatten sie deutlich länger nötig gehabt als auf dem Hinweg, und als sie den Weg erreichten, stellten sie überrascht fest, dass sie beinahe genau die Stelle erreicht hatten, wo sie entführt worden waren. Sie sahen zwei Kutschen in paar hundert Meter entfernt,und einige Soldaten durchsuchten die Gegend nach Spuren.
Die Soldaten waren ziemlich überrascht, als die Vermissten auftauchten, und hörten Pampyl und Yana zu, als sie erzählten, was geschehen war. Die Händler erzählten recht wenig davon, wie sie entkommen waren, und sagten nichts, weshalb sie entführt worden waren. Sie behaupteten, es nicht zu wissen, und dass sie Lösegeldforderungen erwartet hätten. Schließlich bestiegen Vater und Tochter eine Kutsche, und gerade, als sie losfahren wollte, beugte Pampryl sich noch einmal hinaus, und soprach die Soldaten an.
"Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich habe einigen Einfluss in der Stadt, und die Bardin hat unser aller Leben gerettet – und mehr. Ich sage nur, ich finde, dass die Verbannung von Millefleurs aufgehoben werden sollte. Und wenn ich wieder in Miran bin, und der Bann besteht immer noch, werde ich Krach schlagen. Das schulde ich Euch", verbeugte er sich schließlich in Millefleurs' Richtung, die noch immer durch die Soldaten befragt wurde.
Millefleurs lächelte zurück. Anschließend beobachtete, wie die Kutsche davonfuhr. Als sie nicht mehr zu sehen war, sagte sie zu dem Soldaten neben ihr: "Ich glaube, ich soll mit jemandem reden, sobald die Kutsche fort ist?"
Der Soldat grinste. "Ja, er wartet in der anderen Kutsche."
Millefleurs ging hin, klopfte an die Türe und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten. In der Kutsche saß Baron Viridian Gilbur und lächelte sie an. "Das Geheimnis ist immer noch sicher?"
"Ja, sogar, als wir entkommen waren, erzählte er immer noch nicht, worum es ging. Ich habe ein paar Vermutungen, aber mehr auch nicht."
"Ja, ich finde, du solltest es wissen. Wir haben einen Gegenstand zur Analyse nach Mesafort geschickt, einen, den du kennst – ein verfluchtes Amulett."
Millefleurs nickte. Sie kannte das Amulett; der Fluch war, dass es nur auf illegalem Weg den Eigentümer wechseln würde.
"Uns ist natürlich klar, dass das Amulett gestohlen werden könnte. Um dies zu vermeiden, haben wir mehrere Boten mit Informationen gesandt, die die Akademie in Mesafort neben dem Amulett benötigt – und Pampryl hatte die Information, wie und wann das Amulett übergeben werden soll."
"Aha. Für jemanden, der das Amulett haben will, ist das natürlich eine wichtige Information. Aber besteht nicht die Gefahr, dass er noch einmal entführt wird?"
"Man müsste zunächst einmal merken, dass die Entführung nicht gelungen ist, und dann ziemlich schnell arbeiten. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Vorausgesetzt, dass die Briganten die Information nicht schnell weitergeben können."
Millefleurs schüttelte den Kopf auf die implizierte Frage. "Sie haben keine Pferde mehr. Auch hatten sie drei Brieftauben, aber die schwimmen vielleicht schon in der Suppe."
"Wie bitte?"
"Sie sind tot."
"Zufriedenstellend. Hast du noch einen Kommentar?"
In diesem Augenblick klopfte es noch einmal an der Kutschentüre und sie ging auf. Einer der Soldaten blickte herein. Er war Agent des Geheimdienstes und wusste um Millefleurs' Rolle. Er hielt den Leinensack mit den Bruchstücken der Laute in der Hand und reichte ihn herein.
"Danke", sagte sie zu ihrem Kollegen. Anschließend wandte sie sich noch einmal an ihren Onkel. "Was Ihre Frage angeht… war es schlau, jemanden wie Pampryl anzuheuern? Er wäre beinahe gebrochen worden und hätte alles erzählt, als sie seine Tochter bedrohten."
"Pampryl ist kein Agent des Geheimdienstes, und daher weniger verdächtig als Kurier. Wir vermuten, dass die Gegenseite die meisten unserer Agenten kennt. Und was seine Schwäche für seine Tochter angeht: Es gibt für jeden einen Punkt, an dem er zerbricht. Man muss nur arbeiten, um den Punkt zu finden – manchmal mehr, manchmal weniger."
Er stoppte, und wartete anscheinend, dass Millefleurs etwas sagte. Aber Millefleurs gab schon dadurch, dass sie jetzt nichts sagte, ein eindeutiges Statement ab. Schließlich seufzte Baron Gilbur und blickte sich suchend um. Das Interview war vorbei.
Millefleurs wollte gerade aus der Kutsche steigen, als ihm noch etwas einfiel."Lilli, ein Wort noch. Ich hörte, was in der Höhle geschehen ist. Ich weiß, wie hart es für dich gewesen sein muss…"
Millefleurs schüttelte den Kopf. "Alles ein Teil des Jobs. Weißt du, es gab nur ein Ding, das mir wirklich schwer fiel…"
"Ja?"
"Als sie Laute zerstört wurde."
Der Soldat, der immer noch hineinschaute, nickte mitfühlend. "Das muss weh tun, wenn ein Lieblingsinstrument zerstört wird."
"Das war es nicht. Aber es so aussehen zu lassen, als würde ich darüber weinen, das war wirklich anstrengend."
Als sie davon schritt, blickte der Soldat Baron Gilbur mit offenem Mund an. "Verzeihung, aber was hat sie in ihren Venen? Eiswasser?"
Baron Gilbur lächelte. "Nein, ich würde nicht sagen, dass sie da Eiswasser hat."
Plötzlich fiel dem Soldaten wieder ein, mit wem er da sprach. "Oh, es tut mir leid, ich wollte nicht…"
"Nein, kein Eiswasser. So heißblütig ist sie nicht."