Diese Geschichte ist schon etwas älter – aber dennoch recht interessant, denke ich. Ich hatte sie ursprünglich als Hintergrund für einen meiner Charaktere konzipiert, später hat sie sich aber verselbständigt. Den Charakter habe ich zwar gespielt, aber mit der Figur aus den Geschichten hatte er am Ende nicht mehr viel gemeinsam.

Hier lernen wir ein paar Personen kennen, auch wenn noch keine Namen fallen. Ort der Handlung ist Miran, und das kann ich bereits sagen: es ist die Hauptstadt des Imperiums. Was aber genau vor sich geht und wer hier was plant., das wird sich erst in den nöchsten beiden Teilen herausstellen…

Die Nacht hatte bereits ihren Höhepunkt überschritten, als das Fenster sich langsam öffnete. Durch den bläulichen Schein des großen Mondes hätte ein Beobachter eine Frau erkennen können, die lange, graue Haare hatte und in ähnlich graue, unscheinbare Kleidung gekleidet war. Da das Gebäude ebenfalls hellgrau war, war demnach eine Entdeckung durch die auf den Straßen Mirans patrouillierenden Wachen sehr unwahrscheinlich – wenn überhaupt jemand auf den Gedanken gekommen wäre, hier einen Einbrecher zu vermuten.

Nicht dass die Frau hierdurch Probleme gehabt hätte, sie hatte nämlich theoretisch das Recht, hier auf jede beliebige Art und Weise einzudringen. Aber dennoch wäre es für sie sehr unangenehm gewesen, wenn sie gesehen worden wäre.

In dem Zimmer, in dem sie sich befand, gab es keinen Vorhang. Die Frau schien sich vorbereitet zu haben und wickelte sich aus dem langen Wickelrock, unter dem ein weiterer, wesentlich kürzerer Rock in braun zum Vorschein kam. Den langen Rock hängte sie dann über das Fenster, das vollständig von dem Rock verdeckt wurde. Derart abgesichert, dass auch ein zufälliger Blick zum Fenster sie nicht verraten würde, entzündete sie dann eine Kerze und begann, die Schubladen des großen Schreibtisches zu untersuchen.

Als auf dem Gang Schritte hörbar wurden und auch das Licht einer Laterne unter der Türe durchschimmerte, löschte sie schnell die Kerze mit angefeuchteten Fingern. Doch dann ging die Person draußen – wer immer es auch gewesen sein mochte – weiter und das Licht, das unter der Türe durchschien, verschwand wieder.

Die Frau überlegte kurz. Den langen Rock hatte sie – wie geplant – benutzt, um das Fenster zu verdecken. An den Ritz unter der Türe hatte sie jedoch nicht gedacht. Kurz entschlossen zog sie auch ihre Bluse aus und stopfte sie in die Türkante. Dass sie nun barbusig stand, schien sie nicht zu stören; es war allerdings auch niemand da, der dies ungewöhnliche Schauspiel hätte genießen können. Die Frau überlegte jedoch noch weiter. Dann sah sie sich die Türschlösser in der großen Doppeltüre an und schüttelte den Kopf. Mit einer entschlossenen Bewegung nahm sie das lange, graue Haar ab – unter dem ein kurzgeschorener Kopf zum Vorschein kam – und hing es über die eine Klinke, wo es das Schlüsselloch verdeckte. Das zweite „Schlüsselloch“ machte ihr offensichtlich mehr Kopfzerbrechen, denn dort gab es keinen Griff, an dem sie etwas hätte aufhängen können.

Schließlich kam sie zu einem Entschluss. Sie nahm von dem Kerzenwachs, das beinahe erstarrt war, und benetzte ihre Finger damit, dann verstrich sie von dem Wachs oberhalb des quadratischen Loches in der Doppeltüre. Dann stieg sie aus dem letzten ihr verbliebenen Kleidungsstück und „klebte“ ihn an dem Wachs fest, wo er dann auch das Loch verdeckte. Wenn jetzt jemand hier herein kommt, dachte sie bei sich, dann erlebt er sicher die Überraschung seines Lebens.

Danach entzündete sie die Kerze wieder und widmete sich erneut dem Schreibtisch. Insbesondere die Schubladen schienen es ihr angetan zu haben. Sie betrachtete die Griffe, die die Gestalt von Greifenköpfen hatten, genau und wollte gerade die oberste Lade öffnen, als sie zusammenzuckte. Vorsichtig nahm sie die Kerze und stellte sie auf den Boden, dann blickte sie auf die Unterseite des Greifenkopfes. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Onkelchen, Du alter Fuchs!“ atmete sie beinahe unhörbar.

Vorsichtig drückte sie den beinahe unsichtbaren Knopf, der als eine Art Kropf am Hals des Greifenkopfes getarnt war und zog dann vorsichtig die Schublade auf. Aus der Schublade nahm sie dann mehrere Pergamente, die sie im Kerzenschein überflog.
Eines der Pergamente weckte ihre weitere Aufmerksamkeit. Den Text studierte sie genauestens, bevor sie die Pergamente wieder zurück steckte.

Schließlich kleidete sie sich umständlich wieder an, nachdem sie die Kerze erneut mit angefeuchteten Fingern gelöscht hatte. Hierbei sah man denn schließlich auch, dass ihre Bluse zweiteilig zu sein schien.

Nachdem sie das Fenster wieder geschlossen hatte, kletterte sie vorsichtig die Mauer wieder herab, wobei sie darauf achtete, dass keine der Stadtwachen sie sehen konnte

* * *

Die Frau in dem langen Rock und mit den langen grauen Haaren ging durch die verlassenen Straßen des nächtlichen Miran. Niemand beachtete sie, obwohl der neue Tag sich bereits mit leichtem Rosenrot gen Osten ankündigte. Dennoch gelang es ihr, in einer dunklen Gasse versteckt, unbeobachtet den Rock, die Blusenärmel und die Perücke abzustreifen, bevor sie durch ein offenstehendes Fenster in ihre Unterkunft in einem bürgerlich wirkenden Haus nahe einem abgelegenen Hof der miranischen Garnison zurückkehrte, das in besonderen Umständen als Schule verwendet wurde.
Sie war kaum aus ihrer Kleidung und ins Bett geschlüpft, als auch schon mit lautem Klingeln der Beginn eines neuen Tages angekündigt wurde.

Im Laufe des Tages machte der nächtliche Ausflug – und vor allem der Schlafentzug ihr allerdings noch zu schaffen. Insbesondere ein Lehrer für Nahkampf war von ihrer Tagesform nicht erbaut und schlug sie bei Übungskämpfen „zufälligerwieise“ mehrere Male so heftig, dass sie zu Boden taumelte.

Dennoch nutzte sie die Mittagspause, um erneut – verbotenerweise – das Schulgelände zu verlassen und in Miran herumzuwandern. Hier suchte sie einen kleinen Laden auf, dessen Ladenschild Kräuter und Gewürze versprach. Hier kaufte sie ein kleines Fläschchen mit einer Tinktur, das sie im Stroh ihres Bettes versteckte.
Abends jedoch hatte sie sich, kaum dass der Unterricht beendet war, in ihrem Bett verkrochen und schlief tief und fest.

 

(wird fortgesetzt)

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